«Meine Damen und Herren!» Vor 50 Jahren zogen erstmals Frauen in den Grossen Rat ein

«Meine Damen und Herren!» Mit diesen Worten eröffnet der Alterspräsident am 9. Mai 1968 die neue Legislatur. Erstmals dabei sind im bis anhin reinen Männerparlament 14 Grossrätinnen. Wie der Blick in die Protokolle zeigt, werden die neuen Ratskolleginnen rasch aktiv – auch, aber nicht nur zu Frauenthemen. Am 8. Mai findet im Rathaus zum 50-jährigen Jubiläum eine Feier statt, zu der alle ehemaligen und jetzigen Grossrätinnen eingeladen sind.

Erste Grossraetinnen G.Spiess BSL 1013 2 564 23 Bildrecht Staatsarchiv
9. Mai 1968: Gertrud Spiess © Staatsarchiv BS 

 

Es war ein spezieller Moment. «Die Männer haben schon neugierig geschaut», erinnert sich Louise Stebler (PdA), die zusammen mit 13 Kolleginnen am 9. Mai 1968 erstmals im Plenum sass. Sie seien aber nett empfangen worden. Der Einzug der Frauen ins Kantonsparlament bedeutet für die gesamte Deutschschweiz eine Premiere.

Alterspräsident Alfred Stückelberger konstatiert, dass mit den Damen «ein neues Element in die Atmosphäre unserer Beratungen tritt». Erst die Zukunft werde über «die Früchte dieser Erneuerung» befinden. Diese «Früchte» würdigt ein Jahr später Grossratspräsident Peter Müller in seiner Schlussrede. Die Ratskolleginnen hätten bewiesen, dass im Grossen Rat, um ernst genommen zu werden, nicht das Geschlecht, sondern die Qualität des Votums und die Sachkenntnis massgebend seien. Zudem habe die Präsenz der neuen Kolleginnen viel zur Milderung des ehemals rauen Männerparlaments beigetragen.

Neue Ratskolleginnen bringen viel Sachkenntnis mit

Mehrere der 14 neuen Grossrätinnen brachten parlamentarische Erfahrung aus dem Bürgergemeinderat mit, der sich 1961 für Frauen geöffnet hatte. Andere hatten sich in politischen Bewegungen oder im Beruf verdient gemacht, als Ärztinnen, Schulrektorinnen oder Journalistinnen.

Mit dem Gang ans Mikrofon und der Einreichung von Vorstössen halten sie sich denn auch nicht lange zurück. Den ersten Vorstoss, einen Anzug betreffend Mietzinsbeihilfe an Betagte, reicht noch am ersten Sitzungstag die auf Sozialfragen spezialisierte Journalistin Erika Faust (LdU) ein. Auch ein erstes Kommissionspräsidium geht an eine Frau, an Dr. Helen Hauri (LdU), beruflich Rektorin der Basler Mädchenrealschule. Sie wird Präsidentin der Spezialkommission «Mensa» – ständige Sachkommissionen gibt es noch nicht.

Als erste Frau tritt Dr. Uarda Frutiger (Liberale) ans Mikrofon. Die Ärztin spricht am zweiten Sitzungstag zum Ratschlag betreffend einer Physiotherapiestation und einer Pflegerinnenschule im Bethesda.

Individualbesteuerung als eines der ersten Frauenanliegen

Der weitere Blick in die Ratsprotokolle zeigt, dass die Grossrätinnen rasch Frauenthemen aufnehmen. So reicht Gertrud Walter (LdU), besser bekannt als Trudi Gerster, im Juni 1968 einen Anzug betreffend getrennte Besteuerung der erwerbstätigen Ehefrauen ein. Zehn Kolleginnen unterschrieben parteiübergreifend. Später wird er vom Plenum allerdings ohne Wirkung abgeschrieben.

Alice Veith (SP) klagt im Juli per Anzug, dass in der vergangenen Amtsperiode 11 Anzüge zu Wohnbauproblemen überwiesen worden seien, aber keiner zu Wohnungen für alleinstehende Mütter. Auch weitere Vorstösse von Grossrätinnen thematisieren im ersten Jahr alleinstehende Mütter.

Feier zum 50-Jahre-Jubiläum

Am 8. Mai findet im Rathaus eine Jubiläumsfeier zu «50 Jahre Grossrätinnen für Basel-Stadt» statt. Organisatoren sind der Grosse Rat und der Verein Frauenrechte beider Basel, der 2016 sein 100-jähriges Bestehen gefeiert hat. Eingeladen worden sind alle ehemaligen und jetzigen Grossrätinnen sowie Wegbereiterinnen. Rund 85 Grossrätinnen sind angemeldet, darunter zwei Pionierinnen von 1968, sowie viele weitere Gäste. Schirmherrin des Anlasses ist Dominique König-Lüdin, Grossratspräsidentin 2016. Auch der aktuelle Grossratspräsident Remo Gallacchi und Regierungspräsidentin Elisabeth Ackermann werden dabei sein.

Eva Gschwind/ParlD. Quellen: Grossratsprotokolle 1968 und 1969. Zitat Louise Stebler: Gespräch. Bild oben mit Gertrud Spiess: Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 2-564 23 (Hans Bertolf). Bild Front Webseite mit Alice Veith: BSL 1013 2-564 006 (auch Hans Bertolf). 

 

Mehr zum Thema:

Regionaljournal Basel vom 15.3.2018 Vor 50 Jahren durften die ersten Frauen in den Grossen Rat. Auf der Webseite des Radiobeitrags verlinkt ist ein 50-minütiger Dokfilm von SRF von 1971: «Frau Grossrätin», der mehrere der ersten Grossrätinnen porträtiert (ans Ende der Webseite scrollen).

Web-Artikel vom März 2018: «Gewiss ein schöner Anfang»: Vor 50 Jahren traten erstmals Frauen zu den Grossratswahlen an – 14 wurden gewählt

Medienmitteilung zur Jubiläumsfeier vom 8. Mai 2018